Strukturelle Geschlechterhierarchien – eine Bemerkung zur «all men»/«not all men»-Debatte
Kürzlich hat Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt, auf ihrem Instagram-Profil folgende Slide publiziert und dazu geschrieben:
Denn sexualisierte Gewalt ist letztlich nichts anderes, als sich den Raum einer anderen Person zu eigen zu machen, der einem nicht zusteht.
Lavoyer macht auf ein strukturelles Problem aufmerksam. Strukturen sind das, was Handlungen wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher macht. Viele Männer erhalten (oder nehmen sich) mehr Redezeit in Meetings, weil sie gelernt und erfahren haben, dass sie das dürfen, weil das von ihnen erwartet wird, weil sie dafür belohnt werden etc. Und andere Personen gestehen ihnen diese Möglichkeit aus ähnlichen Gründen zu.
Nicht alle Männer tun das, aber alle leben unter diesen Bedingungen, die ihnen Anreize bieten, sich so zu verhalten. Wenn Lavoyer einer Verbindung zu sexualisierter Gewalt schafft, dann spricht sie auch diese Erfahrung von Männern an, dass sie strukturell ‘eingeladen’ werden, ihre Bedürfnisse durchzusetzen, Machmittel zu ergreifen und zu benutzen, auch wenn sie damit Bedürfnisse anderer missachten.
Das Ziel muss sein, Strukturen so zu verändern, dass Übergriffe und Gewalt maximal unwahrscheinlich werden (und zwar nicht durch Repression, sondern durch die Gestaltung einer gerechten, solidarischen Gesellschaft). Wie kann das gelingen?
Der «all men»-Zugang vermischt aus meiner Sicht zwei Perspektiven: Einerseits nimmt er Männer in die Pflicht und geht darauf ein, dass sich gesellschaftliche Strukturen nur dann verändern lassen, wenn auch die sich dafür einsetzen, die scheinbar davon profitieren (was eigentlich gar nicht stimmt, Männer leiden ebenfalls unter diesen Strukturen, merken das aber oft nicht). Andererseits gibt er Männern aber auch die Schuld, er postuliert, dass Männer sich gewaltsam verhalten, weil sie biologisch und sozial Männer sind.
Der «not all men»-Widerspruch weist zunächst die Pauschalisierung zurück, oft aus persönlicher Betroffenheit («Ich bin ein Mann und ich mache das gar nicht, was hier behauptet wird»). Damit drückt er aber gleichzeitig auch die Weigerung aus, sich an der Veränderung der Strukturen zu beteiligen.
Die Frage ist nun für mich, ob es hilfreich ist, dieses Spiel zu spielen, um dazu zu gelangen, gemeinsam das strukturelle Problem anzugehen. In einem ersten Schritt mag «all men» wohl ein Weg sein um aufzuzeigen, was mit Strukturen gemeint ist – in einem zweiten Schritt macht der pauschale Vorwurf aber gewissermassen auch diffus und verwechselt einen Aufruf, sich zu beteiligen mit einer Schuldzuschreibung und einem Vorwurf. Das funktioniert psychologisch nicht: Wem etwas vorgeworfen wird, was sich falsch anfühlt, ist tendenziell eher bemüht, auf den Vorwurf zu reagieren und wird weniger zu Erkenntnis gelangen, sich an der Problemlösung zu beteiligen.
Ich würde dafür plädieren, genau zu verstehen, wie Probleme entstehen. Das Stufenmodell von Mockton-Smith, mit dem sich Femizide erklären lassen, ist ein Weg dazu. Es zeigt deutlich, dass Gaslighting und manipulative, toxische Formen heterosexueller Beziehungen eine Vorstufe für Morde an Frauen sein können. Das zu verstehen, ist eine wesentliche Voraussetzung für die Prävention von Femiziden – und erfordert keinen pauschalen Vorwurf.
Lavoyers Arbeit zur Aufklärung über die Gründe sexualisierter Gewalt und über die Möglichkeiten ihrer Prävention enthalten zahlreiche Ansätze dazu. Sie sollten, so finde ich, nicht mit der pauschalen «all men»-Falle kombiniert werden. Wird die soziale Unterschiedlichkeit von Männern berücksichtigt, kann nicht nur die Aufklärung präziser und wirksamer erfolgen (Männer sind wie alle andere Menschen in intersektionale Formen von Machtverteilung eingebunden, arme und reiche, migrantische und nicht-migrantische, gebildete und nicht-gebildete etc. Männer sind unterschiedlich von Strukturen betroffen). Darüber hinaus ist es möglich, die Männer anzusprechen, die für eine wirksame Kampagne gegen sexualisierte Gewalt wichtig sind. Sie vor zu den Kopf zu stossen mag ab und zu hilfreiche Irritation erzeugen – oft erzeugt sie aber Abwehr und Renitenz.
Alle Männer sollten sich dafür einsetzen, eine Kultur der sexualisierten Gewalt und die damit zusammenhängenden Strukturen abzuschaffen. Aber nicht alle Männer sind davon gleich betroffen und verhalten sich auch nicht gleich.