Demokratie als Schlafspiel
Warum demokratische Systeme weniger demokratisch sind, als viele denken.
Im Roman »Junge mit schwarzem Hahn« von Stefanie vor Schulte wird eine mittelalterliche Gegend von einer düsteren Fürstin beherrscht. Wer ein Anliegen hat, darf es nach dem Gewinn eines »Spiels« vorbringen. Das Spiel heißt Schlafspiel. Im Roman wird es beschrieben, als der Protagonist Martin mitmacht:
Alle, die teilnehmen dürfen, werden im Burginneren vorbereitet. Weiße Hemden werden verteilt. Martin streift das seine über, es ist ihm natürlich zu groß. Jetzt sehe ich aus wie ein Gespenst, denkt er. Die Regeln werden verlesen. Das geht recht schnell. Es gilt, am längsten nicht zu schlafen. Wer einschläft, ist draußen. Während des Spiels darf gegessen und getrunken werden, man darf reden, Karten spielen, sich beschäftigen. Die Spielenden werden streng überwacht, stehen unter ständiger Beobachtung, und nun viel Glück.
»Niemand kann das Schlafspiel gewinnen«, sagt der Henker und Narr schon bevor Leser:innen und Martin wissen, worum es im Spiel geht. Er hat doppelt Recht: Erstens erfüllt die Fürstin die Anliegen auch dann nicht, wenn jemand das Spiel gewonnen hat. Zweitens zerstört das Spiel die Teilnehmer (Frauen sind ausgeschlossen): Wer mitmacht, gerät in eine existenzielle Krise, verliert die Orientierung in der Welt.
Das Schlafspiel ist für mich eine Parabel für Demokratie, wie sie in vielen Rechtsstaaten etabliert ist. Ich meine damit nicht die Vorstellung, dass Menschen Entscheidungen gemeinsam fällen, dass sie Partizipation leben. Die Einsicht bezieht sich auf institutionelle Formen von Demokratie. Sie verhindern erstens, dass Anliegen so umgesetzt werden, wie sie gemeint werden. Der Prozess ihrer Formulierung, ihrer Vermarktung und ihrer Umsetzung ist so langwierig, dass am Schluss nicht das rauskommt, was ursprünglich gefordert wurde. Zweitens erzwingen sie, dass Menschen sich Prozessen unterwerfen, die ihre Integrität und Wahrnehmung angreift. Obwohl gerade Milizparlamente vorgeben, Bürger:innen entscheiden zu lassen, müssen diese zu Politiker:innen werden, bevor sie in Parlamente zugelassen werden.
Diese Kritik führe ich im Folgenden etwas aus.
In Diskussionen über politische Aktionen, die zivilen Ungehorsam einsetzen, höre ich oft das Argument:
Wer in der Schweiz etwas ändern möchte, kann das ja auf demokratischem Wege machen. Weil es diesen Weg gibt, braucht es kein Verständnis für diese Aktionen.
Diese Sichtweise irritiert mich drei Gründen.
Politische Macht entsteht aus Diskursen. Das sind nicht Diskussionen, sondern Zusammenhänge aus Denkweisen, Handlungen, Sprechweisen etc. Ein gutes Beispiel ist die Vorstellung, das zweite Amendment in den USA schütze privaten Waffenbesitz. Das ist eine eher junge Vorstellung, die aber über Jahrzehnte bewusst verbreitet wurde – in Medien, in Prozessen, in Lobby-Arbeit und in der Praxis, sich privat zu bewaffnen. Die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung in diesen Fragen erfolgte nicht in Abstimmungen oder Wahlen, sondern in einem langfristigen Prozess. Diesen zu gestalten ist die Aufgabe all derer, die gesellschaftlich etwas verändern wollen. Aktuell gibt es in der Schweiz Bemühungen, Studiengebühren zu erhöhen und Menschen, die nach einem Studium wenig Steuereinnahmen generieren, für ihr Studium bezahlen zu lassen. Diese Bemühungen werden nicht auf demokratischem Weg vorgebracht, sondern über mediale Diskurse ins öffentliche Bewusstsein gebracht.
Viele demokratische Möglichkeiten sind einer Elite vorbehalten. Wer nicht ein paar Tausend Franken aufbringen kann, hat kaum Chancen, in ein kantonales Parlament gewählt zu werden – wer nicht Zehntausende Franken aufbringen kann, wird kaum ins nationale Parlament gewählt.
Hinzu kommt eine weitere Beschränkung: Parlamente werden durch Parteien kontrolliert. Wer keinen guten Platz auf einer Parteiliste findet, hat wiederum sehr kleine Chancen, gewählt zu werden.
Auch außerparlamentarische Mittel wie Initiativen sind Menschen vorbehalten, die über bestimmte Ressourcen verfügen: Wer genügend Geld hat, kann Unterschriften sammeln lassen und Kampagnen fahren. Wer kein Geld hat, muss erst ein riesiges Netzwerk aufbauen, um einen Vorschlag umsetzen zu lassen.Politische Entscheidungen werden in der Schweiz massiv durch Interessensgruppen beeinflusst. Wiederum: Gruppen, die über finanzielle Mittel und politisches Kapital verfügen. Sie nehmen so Einfluss auf Parteien, auf Politiker:innen, auf Abstimmungen. Auch wenn Initiativen angenommen werden, können sie in der Umsetzung noch einmal massiv verändert und verwässert werden. Letztlich kommen Entscheidungen praktisch nie demokratisch zustande. Demokratische Prozesse sind eine Legitimierung bereits bestehender Entscheidungen, nicht umgekehrt.
Das lässt sich so zusammenfassen, dass Anliegen, die den (ökonomischen) Status Quo in Frage stellen oder verändern, massiv schlechtere Chancen haben als andere. Die Vorstellung, jedes Anliegen könnte zur Abstimmung gebracht werden und würde dann von der Bevölkerung beurteilt, ist bestenfalls naiv, wenn nicht manipulativ. Erstens gibt es starke Filter für Anliegen, die überhaupt vorgelegt werden können – zweitens sind die Entscheidungen nicht neutral, weil sie nur von einem Teil der Bevölkerung getroffen werden und diese bei der Entscheidung nicht neutral agieren kann. Der »demokratische Weg« ist nur eingeschränkt demokratisch, weil er durch undemokratische Formen der Einflussnahme verzerrt wird und wurde.
Auch das ließe sich theoretisch auf diesem »demokratischen Weg« ändern, klar. Die Spielregeln eines Systems zu ändern, das bestimmten Menschen Macht und Privilegien zuweist, ist nicht so einfach. Deshalb erstaunt es mich persönlich nicht, wenn Menschen andere Wege für ihre Anliegen suchen.
Demokratische Systeme sind oft wenig demokratisch, wenn man unter Demokratie versteht, dass alle Betroffenen so gemeinsam Entscheidungen fällen, dass die Bedürfnisse aller angemessen berücksichtigt werden. Zwei systemische Probleme halte ich für besonders hartnäckig und schräg:
Politische Rechte werden als Privileg vergeben und jungen Menschen und solchen, die als »Ausländer:innen« bezeichnet werden, konsequent vorenthalten. Nur ein Teil der Bevölkerung ist überhaupt an der systemischen Demokratie beteiligt. (Natürlich ist die Geschichte der Idee der Demokratie geprägt von solchen Ausschlüssen, die Ideologie der Demokratie meinte nie alle Menschen, sondern immer nur eine Elite.)
Politische Systeme sind zu breit und kompliziert angelegt. Fragen werden nicht dort entschieden, wo Menschen davon betroffen sind, sondern dort, wo problemlos ausgeblendet werden kann, was ein Entscheid mit Menschen macht. Wer eine Abstimmung im Ständerat verfolgt, weiß ohne weitere Informationen nicht, worüber abgestimmt wird und was eine Stimme genau bedeutet. Wer im Ständerat abstimmt, weiß oft auch nicht, was die abgegebene Stimme für Konsequenzen für Menschen hat. Die Schweizer Demokratie ist aus Landsgemeinden entstanden, bei denen alle von Entscheidungen Betroffenen anwesend waren (wenn sie zur privilegierten Elite gehörten). Diesem Anspruch wird sie heute nicht mehr gerecht.

Mit der Einsicht, dass Demokratie als politisches System ein Schlafspiel ist, kann man den Politikverdruss vieler Menschen erklären. Kürzlich habe ich an einem nationalen Projekt mitgearbeitet und dabei die Vernehmlassungsantworten gesehen. Es waren Meinungen von Menschen und Gruppen, die sich mit einer Vorlage auseinandergesetzt hatten und sich oft während Stunden die Mühe gemacht hatten, viele komplizierte Fragen dazu zu beantworten. Es gab in einem Excel-File 900 solche Meldungen. Im Projekt haben wir die Antworten der Fachgruppen und einflussreichen politischen Player gelesen und alle anderen höchstens überflogen. Die Erkenntnis für mich war: Sich an einer Vernehmlassung zu beteiligen, bringt nur etwas, wenn man das im Namen einer Partei oder einer mächtigen Organisation tut. Vernehmlassungen wären ein demokratisches Mittel, wenn sie nicht in ein System eingebunden wären, das Machtverhältnisse schützt. Dazu gehört auch, dass alle permanent zu wenig Zeit haben und Veränderungen immer zu lange dauern, bis sie umgesetzt werden.
Ich beteilige mich weiterhin an Wahlen und Abstimmungen auf allen Ebenen. Aber ich glaube nicht, dass das viel nützt. Vielmehr versuche ich, im Kleinen demokratische Prozesse zu etablieren, die mehr sind als ein Schlafspiel. Ich vermeide an der Schule Abstimmungen, versuche über eine angepasste Soziokratie Entscheidungen über Konsens zu fällen (und in der Diskussion). Die Maxime ist dabei so lange zu diskutieren, bis sich eine Lösung abzeichnet, zu der niemand einen substanziellen Einwand hat. Viele Schüler:innen werden dabei ungeduldig, sie würden lieber abstimmen, weil das schneller geht und weil Entscheidungen bzw. Machtverhältnisse oft absehbar sind. Dabei geht jedoch vergessen, dass Demokratie nicht bedeutet, dass sich eine Mehrheit durchsetzt – sondern dass alle gehört und mitgedacht werden.